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Erinnerungen sind unsere stärksten Waffen, und falsche Erinnerungen schneiden am tiefsten.
General Agamemnon, Neue Memoiren
Er war ein Gefangener ohne Körper, der ein Halbleben führte. Die einzigen Unterbrechungen der Monotonie waren gelegentliche Ausbrüche von Schmerz, Bildern oder Tönen, wenn die anderen Cymeks seine Wahrnehmungszentren an Elektroden anschlossen.
Manchmal konnte Quentin die wirklichen Schrecken seiner Umgebung sehen; in anderen Momenten ließ er sich in seinem Bad aus purem Elektrafluid von Erinnerungen und Geistern der Vergangenheit wie in einem Meer aus sehnsüchtigen Gedanken forttreiben.
Er fragte sich, ob das Leben für Wandra all die Jahre genauso gewesen war – eingesperrt und ohne Verbindung zur Außenwelt, unfähig, auf etwas zu reagieren oder zu interagieren. Lebendig begraben, wie es ihm auf Ix widerfahren war. Wenn ihre Erfahrung auch nur annähernd mit diesem Zustand vergleichbar war, wünschte sich Quentin, er hätte ihr schon vor langem den Segen eines friedlichen Endes gewährt.
Er hatte kein Zeitgefühl mehr, aber ihm schien, dass bereits eine Ewigkeit vergangen war. Die Titanin Juno sprach immer wieder spöttisch, aber auch tröstlich zu ihm und führte ihn durch die »typische Anpassungsprozedur«, wie sie es nannte. Irgendwann lernte er, die schlimmsten Phantomschmerzen zu unterdrücken, die durch Nerveninduktion verursacht wurden. Obwohl es sich immer noch anfühlte, als würden seine Arme, seine Beine und sein Rumpf in glühender Lava liegen, besaß er keinen realen Körper mehr, der diese Pein erfahren konnte. Die Empfindungen existierten nur in seiner Einbildung – bis Agamemnon direkte Induktoren anschloss, die Todesqualen durch jede Windung seines hilflosen, körperlosen Gehirns jagten.
»Wenn du aufhörst, dich gegen das zu wehren, was du bist«, sagte Juno, »wenn du akzeptierst, dass du ein Cymek bist, ein Teil unseres neuen Imperiums, dann kann ich dir Alternativen zu diesen Empfindungen zeigen. Genauso wie sich deine Schmerzzentren stimulieren lassen, können wir es auch mit deinen Lustzentren tun – und glaub mir, das ist eine höchst angenehme Erfahrung. Ich erinnere mich an die Freuden, die Sex in menschlicher Gestalt bereitet. Vor der Ära der Titanen habe ich mich ihnen sogar recht häufig hingegeben, aber Agamemnon und ich haben viele Techniken entdeckt, die noch viel beglückender sind. Ich freue mich schon darauf, sie dir zu zeigen, mein Kleiner.«
Die vereinzelten Sekundanten-Neos, die einst die Elfenbeinturm-Kogitoren versorgt hatten, gingen niedergeschlagen und entmutigt ihren Aufgaben nach. Sie hatten sich mit ihrer neuen Situation abgefunden, aber Quentin schwor sich, dass er niemals kapitulieren würde. Er hatte nur den Wunsch, alle Cymeks auszulöschen, auch wenn er selber dabei sterben würde. Sein Leben interessierte ihn nicht mehr.
»Guten Morgen, mein Kleiner«, drang Junos Stimme in seinen Geist. »Ich bin gekommen, um wieder ein wenig mit dir zu spielen.«
»Spiel mit dir selber«, erwiderte er. »Ich hätte jede Menge Vorschläge anzubieten, aber leider sind sie anatomisch unmöglich, da du keinen organischen Körper mehr besitzt.«
Juno amüsierte sich über seine Worte. »Aber wir sind jetzt auch von allen organischen Mängeln und Schwächen befreit. Unsere einzigen Einschränkungen sind die unseres Vorstellungsvermögens, also gibt es für uns im Grunde nichts, das ›anatomisch unmöglich‹ ist. Würdest du gerne etwas Ungewöhnliches und sehr Vergnügliches ausprobieren?«
»Nein.«
»Aber ich kann dir versichern, dass du so etwas mit deinem alten Fleisch niemals hättest erleben können. Und es wird dir zweifellos gefallen.«
Er versuchte sich zu wehren, aber Junos künstliche Arme ergriffen ihn, und dann hantierte sie mit den Elektrodenschnittstellen. Plötzlich wurde Quentin von einem Strudel aus exotischen, atemberaubend ekstatischen Empfindungen überschwemmt. Er konnte weder keuchen noch stöhnen und ihr nicht einmal sagen, dass sie damit aufhören sollte.
»... findet sowieso hauptsächlich im Gehirn statt«, sagte Juno. »Und jetzt bist du nur noch Gehirn ... und mir hilflos ausgeliefert.« Sie gab einen weiteren Impuls, und nun war die Lawine der Ekstase noch unerträglicher als die unglaublichen Schmerzen, die sie ihm in den vorausgehenden Bestrafungsphasen zugefügt hatte.
Quentin klammerte sich an seine liebevollen Erinnerungen an Wandra. Sie war so lebendig, so wunderschön gewesen, als sie sich ineinander verliebt hatten, und obwohl diese Zeit bereits mehrere Jahrzehnte zurücklag, hielt er sich daran fest – wie an das bunte Band, mit dem einst ein kostbares Geschenk verpackt gewesen war. Er hatte kein Bedürfnis, in irgendeiner Form mit dieser bösartigen Titanenfrau Sex zu haben, auch wenn alles nur auf der neuronalen Ebene stattfand. Es war ehrlos, und es beschämte ihn.
Juno spürte seine Reaktion. »Ich kann es netter für dich machen, wenn du möchtest.« Plötzlich schien Quentin schlagartig zu erwachen und sah sich wieder in seinem geisterhaften Körper, während er von visuellem Input umgeben war, der direkt seiner Vergangenheit entsprang. »Ich kann deine Erinnerungen hervorholen, mein Kleiner, alle Gedanken wecken, die in deiner Hirnmasse gespeichert sind.«
Als eine weitere Welle von Orgasmen sein Gehirn erschütterte, stellte er sich ausschließlich Wandra vor, jung, gesund und vital, ganz anders als die seelenlose Hülle, die er während der vergangenen achtunddreißig Jahre in der Stadt der Introspektion gesehen hatte.
Sie einfach nur wieder so zu sehen, wie sie einmal gewesen war, bereitete ihm mehr Vergnügen als all die Reizeruptionen, die Juno verspielt und sadistisch in sein Gehirn einspeiste. Nun streckte sich Quentin sehnsüchtig nach Wandra aus – und Juno schnitt die Gefühle und Bilder einfach ab, worauf er wieder in die Finsternis der Halbexistenz zurückfiel. Er konnte nicht einmal mehr den Cymek-Aktionskörper im Raum sehen.
Nur ihre Stimme erreichte ihn noch, zunächst höhnisch und dann verführerisch. »Weißt du, es wäre wirklich besser, wenn du dich uns freiwillig anschließen würdest, Quentin Butler. Siehst du nicht die Vorteile, die es hat, als Cymek zu leben? Es gibt so vieles, was wir tun können. Beim nächsten Mal werde ich vielleicht mich selbst in die Bilder einschleusen, und dann werden wir jede Menge Spaß miteinander haben.«
Quentin war nicht in der Lage, sie anzubrüllen und ihr zu sagen, dass sie verschwinden und ihn in Ruhe lassen sollte. Er blieb für unbestimmbare Zeit im Zustand des Sinnesentzugs und fühlte sich verwirrter als je zuvor, während seine Wut von einer undurchdringlichen Barriere abprallte.
Er spielte im Geist immer wieder durch, was er soeben erlebt hatte, und sehnte sich nur noch danach, auf dieselbe Weise mit Wandra zusammenzukommen. Es war ein perverser Gedanke, aber so reizvoll und mächtig, dass er ihn gleichzeitig als beglückend und erschreckend empfand.
Seine Tortur schien Jahrhunderte zu dauern, aber Quentin wusste, dass er seinem Sinn für Zeit und Realität nicht mehr vertrauen konnte. Seine einzige Verbindung zum wirklichen Universum war der Gedanke an sein bisheriges Leben in der Armee des Djihad – und seine leidenschaftliche Suche nach einer Möglichkeit, die Titanen anzugreifen und ihnen nur ein wenig mehr Schmerz zuzufügen, als sie ihn hatten erleiden lassen.
Als körperloses Opfer konnte er nicht vor ihnen fliehen. Aber würde es auch gar nicht versuchen. Er war kein Mensch mehr, nachdem er seinen Körper verloren hatte, und er konnte nie mehr in das Leben zurückkehren, das er bisher geführt hatte. Er wollte seine Familie und seine Freunde nie wiedersehen. Für die Geschichte wäre es besser, wenn sie lediglich verzeichnete, dass er von den Cymeks auf Wallach IX getötet worden war.
Was würde Faykan denken, wenn er seinen tapferen Vater so sah – nicht mehr als ein Gehirn, das in einem Konservierungsbehälter schwamm? Selbst Abulurd wäre beschämt, wenn er ihn jetzt sehen könnte. Und was wäre erst mit Wandra? Würde sie trotz ihres Komas mit Entsetzen reagieren, wenn ihr klar wurde, dass ihr Mann in einen Cymek konvertiert worden war?
Quentin war auf Hessra gefangen, während die Titanen seinen Gedanken und seiner Loyalität zusetzten. Obwohl er sich große Mühe gab, ihnen Widerstand zu leisten, war er sich nicht völlig sicher, wie erfolgreich er darin war, seine Geheimnisse zu bewahren. Wenn Juno seine externen Sensoren abkoppelte und ihm falsche Bilder und Empfindungen einflößte, konnte er sich nicht mehr sicher sein, ob er richtig reagieren würde.
Die Cymeks setzten ihn schließlich in einen kleinen Laufkörper ein, ähnlich denen, die die Neos benutzten, um in den Türmen auf Hessra ihren Pflichten nachzugehen. Juno hob die vielgelenkigen Arme und platzierte Quentins Gehirnbehälter in die dafür vorgesehen Aussparung innerhalb eines mechanischen Körpers. Dann hantierte sie an den Kontrollen und justierte die Elektroden. »Viele unserer Neos betrachten diesen Augenblick als Zeitpunkt ihrer Wiedergeburt, wenn sie in der Lage sind, die ersten Schritte in einem neuen Körper zu machen.«
Obwohl sein Sprachsynthesizer angeschlossen war, weigerte sich Quentin, ihr zu antworten. Er erinnerte sich an die armseligen, irregeleiteten Menschen auf Bela Tegeuse, die schon vor langer Zeit hätten gerettet werden können. Doch stattdessen hatten sie sich von den freien Menschen abgewandt und Juno gerufen. Sie waren bereit gewesen, sogar ihre Freunde zu opfern, um die Chance zu erhalten, Cymeks zu werden.
Hatten diese Narren eine Ahnung, was das bedeutete? Wie konnte sich jemand so etwas wünschen? Sie glaubten, dass sie als Cymek eine Art von Unsterblichkeit erlangten ... aber dies war kein Leben, sondern eine endlose Hölle.
Agamemnon betrat den Raum in seinem kleineren Laufkörper. Juno ging zum Titanen-General. »Ich bin fast mit dem Einbau fertig, Geliebter. Unser Freund kann bald seine ersten Schritte gehen, wie ein neugeborenes Kind.«
»Gut. Dann wirst du endlich das Potenzial deiner neuen Existenz erkennen, Quentin Butler«, sagte Agamemnon. »Juno hat dir bis jetzt assistiert, und ich werde dir weiterhin wohl gesinnt sein, auch wenn wir dich irgendwann um gewisse Gegenleistungen bitten werden.«
Juno schloss die letzten Elektroden an. »Jetzt hast du Zugriff auf diesen Laufkörper, mein Kleiner. Er ist anders, als du es bisher gewohnt warst. Du hast dein früheres Leben als Gefangener in einem schwerfälligen Fleischklumpen verbracht. Jetzt musst du das Laufen noch einmal neu lernen, wie man diese mechanischen Muskeln bewegt. Aber du bist ein schlaues Bürschchen. Ich bin überzeugt, dass du schon bald ...«
Quentin stürmte wütend los, ohne zu wissen, wie er den Cymek-Körper steuern musste. Er schlug mit den mechanischen Beinen um sich, entfesselte rohe Kraft und warf sich auf Agamemnon. Der Titanen-General wich zur Seite aus, als Quentin plötzlich ausrastete.
Aber er konnte seine Bewegungen nicht gut genug koordinieren, um irgendwelchen Schaden anzurichten. Die Gliedmaßen und der klobige Rumpf taten nicht das, was er sich vorstellte. Sein Gehirn war daran gewöhnt, zwei Arme und zwei Beine zu steuern, aber diese Maschine hatte eine spinnenähnliche Gestalt. Wahllose Impulse ließen seine spitzen Beine zucken und in die falsche Richtung schlagen. Obwohl er Juno streifte und frontal gegen Agamemnon stieß, hatte er diese unbedeutenden Erfolge allein dem Zufall zu verdanken.
Der Titanen-General fluchte, aber nicht vor Wut, sondern aus bloßer Verärgerung. Juno bewegte sich schnell und gezielt. Sie streckte die gegliederten Arme aus, und obwohl Quentin weiter um sich schlug, gelang es ihr, die Elektroden zu lösen, über die der Maschinenkörper dirigiert wurde.
»Ich bin zutiefst enttäuscht von dir«, tadelte sie ihn. »Was hast du damit zu erreichen gehofft?«
Als sie bemerkte, dass sie unabsichtlich auch seinen Sprachsynthesizer deaktiviert hatte, schloss sie die entsprechende Elektrode wieder an. »Hexe!«, brüllte Quentin im nächsten Augenblick. »Ich werde dich in der Luft zerreißen und dein perverses Gehirn zerstückeln!«
»Das genügt«, sagte Agamemnon, und Juno trennte die Verbindung zum Sprachsynthesizer wieder.
Sie bewegte ihren Laufkörper näher an Quentins optische Fasern heran. »Du bist jetzt ein Cymek, mein Kleiner. Du gehörst zu uns, und je schneller du diese Tatsache akzeptierst, desto weniger Leid musst du erdulden.«
Quentin wusste ganz genau, dass es keine Rettung und keine Flucht für ihn gab. Er würde nie mehr als Mensch leben können, aber die Vorstellung, was aus ihm geworden war, bereitete ihm Übelkeit.
Juno stapfte herum und sprach mit warmer, verführerischer Stimme. »Für dich hat sich alles geändert. Du möchtest doch nicht, dass deine tapferen Söhne dich so sehen, nicht wahr? Deine einzige Chance liegt darin, uns dabei zu helfen, eine neue Ära der Titanen zu begründen. Von nun an musst du deine frühere Familie für immer vergessen.«
»Wir sind jetzt deine Familie«, sagte Agamemnon.